INFOS
Dokumentarfilm, Deutschland 2003
100 Minuten, 35 mm, DTS, Farbe
Buch und Regie: Franziska Tenner
Kamera: Peter Przybyl
Dramaturgie: Olaf Winkler
O-Ton: Michael Bartylak
Hendrik Lühdorf u.a.
Tonschnitt: Dietrich Körner
Tonmischung: Jörg Höhne
Montage: Paul Belling
Produktionsleitung: Oliver Niemeier
Produzenten: filmkombinat GmbH & Co. KG
J. Körner, T. Riedel, O. Niemeier
Produktionsleiter RBB Torsten Klein
Redakteurin RBB Cooky Ziesche
NO EXIT ist eine Gemeinschaftsproduktion von filmkombinat GmbH & Co. KG in
Zusammenarbeit mit der Kulturellen Filmförderung Mecklenburg-Vorpommern,
ORB und ZDF. Die Reihe OSTWIND ist eine gemeinsame Initiative
von ORB und ZDF / Das kleine Fernsehspiel.
Verleih gefördert von der Kulturellen Filmförderung Mecklenburg-Vorpommern
SYNOPSIS
Jeden Samstag treffen sich die Mitglieder der Freien Kameradschaft Frankfurt (Oder)" in Nicos Wohnung zur politischen Schulung und anschließendem geselligen Beisammensein bei Bier und Pizza. Nico, Fischi, Bibi, Conny und André werten gemeinsam die Ereignisse der letzten Woche aus und planen Aktionen für die nächste:
Singen im Altersheim, Unterschriften sammeln, um härtere Haftstrafen für Kinderschänder" durchzusetzen, Saubermachen auf dem Spielplatz um die Ecke...
Nico ist in der Freien Kameradschaft Frankfurt (Oder)" der Wortführer und lange Arm der NPD. Über Nico wird versucht, die national gesinnte Politisierung der Gruppe voranzutreiben und auszubauen. Manche, wie Conny, wünschen sich hingegen mehr Gespräch über die privaten Probleme. Nico wird schließlich von den anderen als Vorsitzender abgewählt. Dafür erhält Bibi den Vorsitz, der mit Politik gar nicht so viel am Hut hat".
Franziska Tenner hat in ihrem Dokumentarfilm NO EXIT über einen Zeitraum von einem Jahr das Innenleben der Freien Kameradschaft Frankfurt (Oder)" beobachtet.
Dabei lenkt sie unsere Sicht auf die Motive, Defizite und Wünsche ihrer Mitglieder.
Wir erleben die Gruppe als Teil der Jugendkultur im Osten und als politisches Phänomen, das seitens der etablierten rechten Parteien, wie der NPD, immer wieder versucht wird zu instrumentalisieren.
Die Gruppe wird als zwittriges und zerbrechliches Gebilde gezeigt, in dem unterschiedliche politische Intentionen und ganz verschiedenartige persönliche Ansprüche und Vorstellungen aufeinander prallen. Das führt zu verdeckten und offenen Konflikten. Deutlich wird auch erkennbar, was in den regelmäßig stattfindenden Schulungen an "brauner Färbung" verstärkt und was abgelehnt wird. Der Film zeigt aber vor allem, wie die politische Gesinnung von den Menschen abtropft, wenn sie uns Einblicke in ihr Innerstes gewähren. Dann erscheinen ganz und gar unpolitische Sehnsüchte und Konflikte. Und wir können zugleich die eigentlichen Wünsche und Defizite entdecken, die der Nährboden sind für eine politische Instrumentalisierung.
Rechtsextremismus ist heute kein ausschließlich politisch-ideologisches Phänomen mehr, sondern auch ein soziokulturelles. Es stellt den lebenswirklichen Zusammenhang dar, der fest verankert ist im Alltag seiner Träger. Die Gründe rechtsextrem zu sein oder zu werden sind genauso unterschiedlich, wie die Schichten und das Alter der dazugehörigen Personen.
Nico (22), Bibi (19) und Conny (28) stehen im Mittelpunkt dieses Dokumentarfilms.
DARSTELLER
Nico ist zum Zeitpunkt der Dreharbeiten 22 Jahre alt. Er lebt in Frankfurt (Oder) und arbeitet als Versicherungsvertreter. Außerdem ist er NPDMitglied und Liedermacher. In Frankfurt (Oder) gibt es vier unabhängige, nationale Kameradschaften. Eine davon, die Freie Kameradschaft Frankfurt (Oder)" wurde im März 2001 von Nico und gleichgesinnten Freunden gegründet. Nico ist innerhalb der Kameradschaft der Arm der NPD, über ihn wird versucht, die national gesinnte Politisierung der Gruppe voranzutreiben. Dabei hat er es nicht leicht mit seinen politischen Schulungen innerhalb der Kameradschaft.
Als Nico zweieinhalb Jahre alt war, ließen sich seine Eltern scheiden. Seine Mutter verzichtete auf das Sorgerecht, er blieb bei seinem Vater.
Nico ist auf der Suche nach Liebe und der Nähe zu Frauen. Die Menschen in der Kameradschaft spiegeln Nicos Sehnsucht nach Zusammengehörigkeit wider, die er auch durch sein politisches Engagement zu stillen versucht.
Conny ist zum Zeitpunkt der Dreharbeiten 28 Jahre alt, lebt in Frankfurt (Oder) und erzieht ihre zwei Kinder allein. Ihre große Liebe Denis sitzt im Knast. Monatlich fährt sie ihn besuchen und träumt von der Zeit danach.
Sie will endlich wieder einen Mann an ihrer Seite. Dass sie ihn in den 18 Monaten ihrer Beziehung nur knapp vier Wochen in Freiheit erlebte, spielt für sie keine Rolle.
Connys jüngeres Kind stammt aus einer Ehe mit einem marokkanischen Asylbewerber. Sie ging die Ehe ein, um ihn vor der Abschiebung zu retten. Doch die Beziehung scheiterte an häuslicher Gewalt und unvereinbaren kulturellen Ansichten.
Aus dieser persönlichen Erfahrung resultiert Connys - wie sie selbst sagt - abartige politische Meinung". In der Kameradschaft sucht sie nach sozialen Bindungen und Freunden, die sich gegenseitig beistehen und helfen. Sie will gemeinsam Spielplätze säubern und sich für härtere Haftstrafen für Kinderschänder" engagieren. Über die Gruppe will sie die Betreuung von inhaftierten Freunden und Bekannten organisieren.
Bibi - Zum Zeitpunkt der Dreharbeiten ist Bibi 19 Jahre alt und hat ein Kind, das bei der Mutter aufwächst. Bibi ist bekennender Skinhead, er versteht sich als freier Nationalist mit anarchistischen Ansätzen. Während der Dreharbeiten wird Bibi zum Vorsitzenden der Freien Kameradschaft Frankfurt (Oder)" gewählt. Er engagiert sich für eine Mahnwache und eine Unterschriftenaktion für härtere Strafen für Kinderschänder".
Bibi träumt, wie die meisten in der Kameradschaft, von einem Haus mit Garten und deutschem Schäferhund. Im Frühjahr 2001 hat er einen anderen 19-jährigen nachts grundlos auf offener Straße brutal zusammengeschlagen. Gegen ihn läuft ein Verfahren wegen schwerer Körperverletzung und versuchtem Raub. Im Januar 2002 wurde er zu 16 Monaten Haft verurteilt. Im Hinblick auf seine Tat fehlt Bibi jegliches Schuldbewusstsein.
INTERVIEW
Wie sind Sie auf die Freie Kameradschaft Frank- furt (Oder) gestoßen?"
Im Alter von 15 bis 20 habe ich selbst in Frankfurt (Oder) gelebt, eine Ausbildung gemacht und dann am dortigen Kleisttheater gearbeitet. Es war eine schöne Zeit in meinem Leben.
Als es darum ging, einen Film über rechtsextreme Jugendliche im Osten zu drehen, bin ich bewusst nach Frankfurt gegangen, eben weil ich diese Stadt einmal sehr gemocht habe.
Ich habe rechte Funktionäre, rechte Clubs und Treffs recherchiert. Einmal setzte ich mich an eine Straßenbahnhaltestelle mitten in Frankfurt und beobachtete die Jugendlichen, die dort vorbeikamen.
Ich habe gewartet - und irgendwann haben mich ein paar 16jährige Jungs angesprochen, die vorher mit einer kleinkalibrigen Pistole auf Tauben geschossen hatten. Wir haben einfach geredet. Das ist viel unkomplizierter als man sich das immer vorstellt. Ich habe auch Fotos von ihnen machen dürfen und ihre Telefonnummern bekommen.
Ich wusste, dass in Frankfurt ein relativ hoher NPD/ JN - Funktionär lebt: Jörg Hähnel, seines Zeichens auch Liedermacher. Und da mir meine taubenschießenden Jungs auch gleich seine Adresse gesagt hatten, klingelte ich dort. Hähnel wohnte aber nicht mehr in dieser Altbauwohnung.
Da wohnte jetzt Nico, Kameradschaftsführer der Freien Kameradschaft Frankfurt (Oder)". Er erzählte auch gleich von seiner Kameradschaft, die sich jeden Samstag um 16 Uhr in der Wohnung zur Schulung treffe. Wir vereinbarten, dass ich zur nächsten Schulung komme, damit mich alle kennenlernen können, dann ging ich wieder.
Ich glaube, alle aus der Kameradschaft waren aufgeregt, als es um die Frage ging, ob ich mit und über sie drehen dürfe. Sie fühlten sich auf einmal wichtig und hatten doch auch Angst.
Auch ich wusste nicht, was mich erwartet. Niemand konnte es mir sagen. Ich musste es selbst herausfinden.
Welche Erfahrungen bzw. Erkenntnisse haben Sie während dieser Zeit sammeln können?"
Die Organisationsform Kameradschaft ist relativ neu in unserer heutigen Gesellschaft. Ihr Sinn bleibt ein alter: Alle Menschen wollen geliebt werden und sind auf der Suche nach Liebe und Glück. Diese menschliche Sehnsucht bietet sich auch heute noch dafür an, politisch benutzt zu werden. Die Freie Kameradschaft, in die wir einen Einblick erhielten, ist nicht die einzig existierende Form einer Kameradschafts-Struktur. Unbestritten mag es militantere, politischere und professionellere Gruppen dieser Art geben. Doch die Befriedigung ganz anderer Bedürfnisse jenseits der politischen Orientierung zeigte sich unserer Meinung nach an dieser Gruppe besonders deutlich.
Charakteristisch für unsere Freie Kameradschaft und deren Umfeld war auch, dass begangene kriminelle Delikte - bis hin zu schwerer Körperverletzung und fahrlässiger Tötung - häufig später von den Tätern politisiert wurden. Die innere und äußere Rechtfertigung bekam erst im Nachhinein einen rechtspolitischen Anstrich.
Damit brauchte innerhalb der Gruppe keine Auseinandersetzung mit der Tat als solcher stattfinden. Außerdem haben die Jugendlichen das Gefühl - und dieses Gefühl mag durchaus seine Berechtigung haben -, dass sie in der Gesellschaft als Rechtsextremisten anerkannter" sind und stärker wahrgenommen werden als gewöhnliche Kriminelle.
Ich war erschrocken über die Maßlosigkeit dieser Jugendlichen. Ihre Moral hatte nichts mit meiner Moral zu tun.
Alle Mitglieder der Kameradschaft wurden in ihrer Kindheit geschlagen. Das war und ist für sie normal, auch heute noch: Wer nicht hört, der muss spüren! Dann merkt er es sich vielleicht!" Ich konnte erkennen, dass meine Protagonisten in einer Welt aufgewachsen sind, in der Sprache kaum einen Wert besitzt.
Sie wissen auch nicht, was Vertrauen ist. Alles läuft auf einer Kumpelebene" ab, die jederzeit Distanz ermöglicht. Dadurch sind sie anderen Menschen nicht verpflichtet. Sie sind alle eigentlich immer ganz allein, weil sie nicht wissen, wie sie mit Menschen und ihrem Inneren umgehen sollen.
Aber sie alle reagieren sofort, wenn sich ihnen umgekehrt jemand auf dieser Ebene nähert: Sich für ihre Befindlichkeiten, ihren Alltag, ihre Kindheit, ihren Liebeskummer, ihre Träume, Hoffnungen und Enttäuschungen interessiert. Dann fangen sie auf einmal an zu reden und über sich nachzudenken - und können auch z.B. zugeben, dass sie gerade die größte Scheiße gebaut haben. Dann können sie auch sagen, dass ihnen Rechts und Links und Politik überhaupt scheißegal ist. Auf die Frage, wovon sie träumen, haben sie alle so oder ähnlich gesagt: Familie, Arbeit, kleines Häuschen, Hund...
Sie haben die Protagonisten insgesamt über ein
Jahr lang begleitet - Hat sich Ihr Bild von den Rechten" durch diese Arbeit verändert?"
Ich habe in der ersten Hälfte der 90er Jahre fürs Fernsehen gearbeitet. Mein Themenschwerpunkt war schon damals Rechtsextremismus.
1994 habe ich für den Aufbauverlag ein Buch über rechte Frauen geschrieben. Das ist der Background, mit dem ich natürlich auch an diesen Film herangegangen bin.
Auch damals schon begleitete ich bestimmte Rechte immer wieder. Damals waren allerdings die Strukturen dieser Szene anders. Es gab die großen Parteien, wie DA, NA, FAP, die Wikingjugend.
Das politische Mittel war vor allem die Großdemonstration.
Dann kamen die Verbote und Inhaftierungen Mitte der 90er Jahre. Die Szene schien gelähmt.
Die Frage für mich und andere Insider war, was passieren würde, wie sich die Rechten neu organisieren würden. Denn dass sie das tun würden, stand immer außer Frage. Und dann entstanden die Freien Nationalisten, die sich eben in den Freien Kameradschaften organisierten. Sie trafen sich oft auf scheinbar privater Ebene, um ihre politischen Aktivitäten und Schulungen zu organisieren.
Hinzu kam, dass die Musik in der Szene eine immense Bedeutung gewann. Vorreiter ist unter anderem Frank Rennicke gewesen, der auch im Film zu erleben ist. Die Rechten nahmen die Tradition der linken Liedermacherbewegung aus den 70ern auf: politische Lieder, gesungen zur Gitarre. Man muss sich das mal vor Augen halten: Rennicke vergleicht sich mit Victor Jara und Hannes Wader! Es wurden auch Lieder von Westernhagen oder Kunze gecovert. Sie interpretieren linke Lieder um, manchmal ohne den Text zu verändern. Ich habe Freiheit" von Westernhagen gehört, gesungen von den Landsern".
Über der Erkenntnis, wie gut dieses Lied in ihrem Sinne funktioniert, blieb mir der Atem stehen. Sie haben überhaupt keine Berührungsängste mit linken Traditionen, weil sich die Rechten, genau wie die linken Künstler damals, als politische Kämpfer verstehen.
Insofern habe ich nun innerhalb der rechten Szene ganz neue Erfahrungen gemacht, die nicht nur der neuen Organisationsform geschuldet waren, sondern auch der Anwendung völlig anderer Mittel.
Und natürlich bin ich den Jungs in der Freien Kameradschaft Frankfurt (Oder)" viel näher gekommen als ich es damals einem der Rechten" war. Das lag einerseits an der langen Zeit, die ich mit ihnen verbracht habe. Allerdings habe ich auch etwas völlig anders gemacht als früher: Ich habe nicht mehr mit ihnen politisch diskutiert, zumindest viel weniger als früher.
Einerseits kannte ich die ganzen Argumente schon; es waren die Gleichen wie auch schon Anfang der 90er gewesen: Die Engländer haben den Deutschen den Krieg erklärt; die Juden haben die Deutschen boykottiert, Hitler wollte ein vereinigtes Europa, so wie es heute die EU will - blabla..." Darüber hinaus bin ich inzwischen fest davon überzeugt, dass diese Jugendlichen ganz genau wissen, dass das, was sie da sagen, falsch ist.
Aber sie wollen es glauben. Jeder Mensch glaubt an den Gott, an den er glauben will. Und sie wollen das alles glauben, weil sie sich etwas davon erhoffen. In Diskussionen kann man sie davon nicht abbringen.
Folgende Erkenntnis beschreibt meinen neugewonnen Blick auf die Rechten: Jugendliche werden in unserer heutigen Gesellschaft nicht wahrgenommen. Sie existieren über weite Strecken als störende Randgruppe, die weder gebraucht noch erwartet wird. Sie sind überflüssig, scheint es, und eigentlich machen sie nur Umstände. Die Jugendlichen merken das ganz genau. In Frankfurt finden über 50 Prozent der Schulabgänger keine Lehrstelle.
Die Jugendlichen bekommen gesellschaftliche Aufmerksamkeit, wenn sie rechts sind. Und damit haben sie ihr Ziel erreicht, das ist verlockend.
Diese Erkenntnis war neu für mich. Die Motivation rechts zu sein oder zu werden, ist heute bei diesen Jugendlichen in erster Linie eine private, persönliche Entscheidung, keine politische.
Damit ist ihnen auch schwerer beizukommen, die eigene Positionierung ihnen gegenüber ist schwieriger. Wenn man sich vor Augen führt, aus welchen persönlichen Gründen diese jungen Menschen in die Kameradschaften gehen, wird es auf einmal menschlich, verständlich, und man kann Mitgefühl entwickeln.
Die Frage ist dann natürlich, wie man diesem Phänomen beikommen kann. Und da erweist sich die Gesellschaft als zunehmend handlungsunfähig.
Insofern ist das Dilemma der Jugendlichen im allgemeinen, der rechten im besonderen, viel umfassender als ich angenommen hatte.
Der eigene Blickwinkel verändert sich zwangsläufig, wenn man sich auf ein Monster einlässt und entdecken muss, dass dahinter auch nur kleine Würmer stecken. Ich wollte auch diese Erfahrung in dem Film vermitteln, auch wenn mir immer klar war, dass nicht jeder bereit sein wird, sich darauf einzulassen.
Wie hat die Gruppe auf den Film reagiert?"
Sie haben ihn mit mir zusammen gesehen, auch Bibi hat ihn im Knast anschauen können. Ich war schon aufgeregt. Aber es war nicht ihre Wut oder Enttäuschung, die mir ein mulmiges Gefühl verursachten, sondern das Wissen, dass ich sehr tief in ihre Seelen geschaut hatte, was der Film auch wiedergibt.
Wie würden sie mit der Darstellung ihrer eigenen Sehnsüchte und Träume, ihres Dilletantismus, der sie umgebenden Hoffnungslosigkeit umgehen? Ich wusste, dass ihnen der Film weh tun würde.
Und so war es dann auch. Alle waren sehr betroffen. Manches über die Einzelnen wussten sie untereinander gar nicht. Natürlich haben sie sich selbst nie so gesehen, aber sie konnten auch nicht sagen, dass der Film nicht stimmt. Das haben sie wohl gemerkt und dann auch gar nicht erst zu diskutieren versucht. Nico hatte schon gehofft, dass er sich über den Film ein bisschen in der Szene profilieren könnte. Nach dem Film kam von ihm die Frage, warum ich nicht etwas von seinen politischen Statements verwendet hätte. Es hat mich nicht interessiert, war meine Antwort.
Was wünschen Sie sich für den Film?"
Ich wünsche mir Offenheit, den Mut, sich auf diese Menschen einzulassen.
Ich möchte mit dem Film daran erinnern, dass jeder, mich eingeschlossen, Verantwortung für seine Mitmenschen hat, dass es wichtig ist, sich füreinander zu interessieren und über alle Barrieren hinweg im Gespräch zu bleiben.
Franziska Tenner (Regie und Buch)
Die Regisseurin Franziska Tenner wurde 1972 in Thüringen geboren. Sie arbeitete von 1988 bis 1991 als Regieassistentin an den Stadttheatern Frankfurt (Oder), Görlitz und Zittau.
Von1991 bis 1994 war sie als Redakteurin bei der Mefisto Video GmbH Berlin mit dem Themenschwerpunkt Rechtsextremismus beschäftigt. Ihr erstes Buch Ehre, Blut und Mutterschaft erschien 1994 im Aufbau Verlag Berlin. Seit 1994 studiert Franziska Tenner an der HFF Konrad Wolf Potsdam-Babelsberg Film- und Fernsehregie. Unter ihrer Regie entstanden an der HFF die Kurzfilme November, Nicole - Einsam bist Du trotzdem und Charuzi Navi.
NO EXIT ist ihr erster abendfüllender Dokumentarfilm.
Franziska Tenner über die Arbeit an NO EXIT Als ich begann, in Frankfurt (Oder) zu recherchieren, war mir noch nicht klar, welche Dimensionen das Ganze annehmen könnte. Ich begleitete die "Kameradinnen" in ihrem Alltag, bei ihren Aktionen, während ihrer Treffen.
Über Freie Kameradschaften, die Freien Nationalen, wusste ich nichts außer der Tatsache, dass sie existieren. Mir war klar, dass ich alles, was mich interessierte, nur bei ihnen selbst erfahren könnte. Das bestätigte sich später in Gesprächen mit Sozialarbeitern, Polizeibeamten, Wissenschaftlern, Eltern und anderen. Sie alle wussten nichts, so wie ich am Anfang. Es gab noch keinen Film über die relativ neue Organisationsform der Freien Kameradschaften. Ich wollte wissen, was junge Menschen in diesen kleinen politischen Gruppen suchen.
Bei der ersten Begegnung waren alle noch ganz schüchtern. Keiner traute sich, etwas zu sagen. Nur Nico rasselte seine NPD-Schulung herunter, ohne nach links oder rechts zu sehen. Das war der Anfang.
Am Anfang war: Faszination, Erschrecken, Unverständnis, auch Ekel. Alles war so durchschaubar, die Floskeln waren so durchsichtig, ein für mich dilettantisches Selbstbild; ich fragte mich, ob ich in ihrem Alter auch so war, als ich noch in Frankfurt lebte. Sie und ich - wir sind in einer Welt groß geworden. Wir teilen denselben historischen Hintergrund, dieselben gesellschaftlichen Erfahrungen.
Ich gewann ihr Vertrauen, das - so denke ich heute - nie ganz vorbehaltlos war. Und dann entwickelte ich Strategien, um die Intensität in unseren Begegnungen zu steigern, sie vergessen zu lassen, dass ich ein Fremdkörper für sie bin, der versucht, sie zur Reflexion zu zwingen. Und irgendwann geschah es natürlich auch, dass sie mit einem Mal Reflexionen von uns aufnahmen, benutzten; sie wussten, dass uns bestimmte Fragen beschäftigen und versuchten diese dann selbst zu thematisieren. Gleichzeitig bemerkten sie, dass meine Fragen sie auch entblößten und ich sie in ihrer Einsamkeit erkannte. Der Versuch, meine Beobachtungen zu entschärfen, bestimmte Themen selbst aufzugreifen; das hatte gleichzeitig etwas von Waffen-Strecken und von Waffen-Umkehren.
Kritik aus Tip zu "NO EXIT" vom 12.2.2004 Nico, Conni, Bibi, Fischi und Andre sind Kameraden. Das, was sie verbindet, ist außer gemeinsamen Erfahrungen in einem brutalen Milieu, wo Misshandlung, schwere Körperverletzung und sogar Totschlag zur Realität gehören, die Sehnsucht nach einer heilen Welt, nach Werten wie Treue, Freundschaft und Geborgenheit. Nur in der Gruppe, in der "freien Kameradschaft", sind sie ganz bei sich selbst, können sie ihre verpasste Kindheit noch einmal nachholen. Doch ihre Träume von gesellschaftlicher Akzeptanz scheitern auch hier. Mühsam buchstabieren sie sie sich durch das Schulungsmaterial der NPD, stolpern über Begriffe wie "nationale Identität" und können sich auch über die politischen Inhalte nicht einig werden. Ihre Transparente gegen "Kinderschänder" enthalten Recht-schreibfehler, und ein Liederabend im Altersheim erregt nur deshalb keinen Widerspruch, weil die Zuhörer vermutlich taub sind.
Dies ist kein Film, der aus Neonazis Monster macht, kein Gruselfilm mit marschierenden Uniformträgern und grölenden Skinheads, sondern das facettenreich und einfühlsam gezeichnete Porträt einer Gruppe Jugendlicher aus Frankfurt /Oder, denen schon der Versuch auf nationales Heldentum mißlingt. Dennoch klammern sie sich an die Gruppe, weil es der einzige Halt in einem trostlosen Leben ist, das aus Enttäuschungen und Demütigungen besteht. Fast möchte man Verständnis und Mitgefühl aufbringen, da wird einem auch die Gefahr bewußt, die von diesen Dropouts droht: Fast beiläufig kommentiert einer der Protagonisten den grundlosen Angriff auf einen der Jugendlichen, den er dabei schwer verletzte: Nein, Reue empfinde er nicht. Das könne ihm schließlich genauso passieren. Da hätte derjenige eben Pech gehabt. Es sind diese Momente voller Hoffnungslosigkeit, in denen "No Exit" neben Mitleid auch Entsetzen produziert.
Karl Hermann
Für ihren Dokumentarfilm "No Exit" hat sich die Regisseurin unter Neonazis begeben. Dabei stieß sie auf stark vernetzte Kameradschaften, den langen Atem der nationalen Szene und verhinderte Medienstars.Woher rührt Ihre Faszination für rechtsextreme Jugendliche?
Franziska Tenner: Ich bin in diesem Land und mit dieser Generation groß geworden.
Ich bin in Schwedt aufgewachsen, und ich kenne diese brutalen, rabiaten Umgangs-formen. Das ging schon in den Achtzigern los. Bei mir in der Schule sind innerhalb eines Jahres acht Leute in meinem Alter in den Knast gegangen. Diese Jugendlichen hätten also meine Bekannten sein können. Und ich versuche einfach nur zu beobachten, was aus ihnen wird. Meine Eltern tolerieren dies übrigens weniger. Die haben Angst, dass ich denen eine Plattform gebe.
Wie entsteht der erste Kontakt zu einer rechten Kameradschaft? Die stehen ja nicht im Telefonbuch...
Franziska Tenner: Man muß sich erst mal ohne Kamera und ohne Team mit ihnen trefffen und eine ganze Weile mit ihnen reden, Vertrauen aufbauen. Aber anderer-seits wollen sie auch die Öffentlichkeit: Sie träumen davon, Superstars zu werden, auf ihre Art und Weise. Der Nico hat mich mal gefragt, ob ich Hasselbach kenne. Die sehen diese Medienstars und wissen, dass so etwas funktioniert. Auch Kühnen war ja ein negativer Medienstar. Und diese Rolle war etwa bei Nico eine große Hoffnung.
Wie weit funktioniert das gegenseitige Vertrauen bei so einem Projekt? Gibt es da gefährliche Situationen?
Franziska Tenner: Da gab es einen Artikel über die erste Vorführung bei den IG Medien in Frankfurt. Und darauf hat die rechte Szene ziemlich sauer reagiert. Nicht auf mich, sondern auf ihre eigenen Leute. Das, was wir gemacht haben, war ja ein Blick hinter die Kulissen, der für die Rechten eher peinlich ist, weil er das Eigenbild zerstört, das sie von sich aufgebaut haben. Doch wenn jetzt etwa Nico, um seinen Ruf zu retten, die Sache so dreht, dass ich angeblich gegen Absprachen verstoßen habe, ihn quasi verrraten habe, dann kann die Sache auch für mich kritisch werden. Doch im Augenblick traut er sich selber nicht nach Frankfurt. Und auch die anderen dürfen nicht mehr in die Szenediscos.
Gibt es da ein Bewußtsein für die eigene Trostlosigkeit, für diesen grenzenlosen Dilettantismus in ihrem Leben?
Franziska Tenner: Sie spüren es, aber es ist schwer, die Wahrheit darüber anzunehmen und deswegen sind sie auch so aggressiv. Doch die Strukturen ihrer Kindheit, woher das alles kommt, das kennen sie sehr genau. Erst ist das übliche Schenkelklopfen angesagt und dann wird es ziemlich beklommen, wenn sie plötzlich über ihre Familie reden müssen.
Ist das eher Mitleid oder vielleicht auch Hohn, der sich berechtigterweise bei einigen jugendlichen Zuschauern breit machen wird?
Franziska Tenner: Hoffentlich doch wohl eher ein Lachen, das im Halse stecken bleibt. Für mich wäre es wichtig, dass sich die Zuschauer auch wiedererkennen.
Was für ein Typ ist dieser Nico? Einerseits Protagonist der NPD und dann auch wieder sanfter Liedermacher ...
Franziska Tenner: Der will sich nach oben treten, raus aus dem Milieu seines Vaters, wo Alkohol und Arbeitslosigkeit bestimmend sind und er will natürlich auch mit Politik Geld verdienen und mit der Musik, was vielleicht sogar funktionieren kann. Der ist zäh, der ist jung und hat einen langen Atem. Dafür geht er dann auch ins Altersheim, um dort seine Rennicke Lieder (Frank Rennicke ist Liedermacher der rechten Szene, die Red.) zu singen.
Ist das ein neuer Trend in der Szene? Weniger Aufmärsche, dafür mehr Sozialarbeit im Kleinen. Ist das schon das Ende der Organisation?
Franziska Tenner: Nein, die Kameradschaften sind untereinander sehr vernetzt, gerade an der Odergrenze, Frankfurt, Guben, Eisenhüttenstadt. Aber die holen sich heute ihr Feedback aus sozialen und anders getarnten Aktivitäten. Wenn da viele Leute und nicht nur welche mit rechter Gesinnung ihre Liste gegen Kinderschänder unterschreiben, dann ist das natürlich auch ein Erfolg. Viele Rechte nutzen heute kommunale Freiräume, da wo sich die Gesellschaft zurückgezogen hat, organisieren Kinderfeste, geben Schülerzeitungen heraus.
Ist das rechtsextreme Weltbild da oft nicht nur noch eine Pose, um Aufmerksamkeit herzustellen, hinter der sich ein ganz anderes Bedürfnis verbirgt?
Franziska Tenner: Ja, vielleicht ist das der Unterschied zu früher. Damals, vor zehn Jahren, suchte man die Gruppe, heute die Familie. Doch diese Sehnsüchte können sie außerhalb der Gruppe nicht realisieren. Diese ganzen Versuche, eine Familie aufzubauen oder nur eine positive Beziehung einzugehen, gehen meistens schief.
Ich frage Nico in dem Film, was für ihn Liebe ist, und er kann es nicht beschreiben, er weiß es nicht. Er hat für positive Gefühle wie Liebe, Leidenschaft, Vertrauen keine Worte. Er kann nur die negativen Gefühle beschreiben: Hass, Wut, Angst. Und da wird er dann auch sehr emotional.
Was glauben Sie, was man mit diesem Film erreichen kann?
Franziska Tenner: Eine Entwicklung aufzuzeigen, die eher im Stillen abläuft. Die Öffentlichkeit interessiert sich nur, wenn Gewalt im Spiel ist. Davon wird sich distanziert, aber mit dem Rest hat man kein Problem, etwa woher diese latente Gewaltbereitschaft kommt. Und da hat auch die Szene kapiert, das sie das nicht weiterbringt. Auch Nico sagt, man muss die Jugendlichen von der Straße holen. Und das tun die freien Kameradschaften.
Interview zu "No Exit" von Franziska Tennner, geführt von Karl Hermann im Tip-Berlin (Ausgabe 04/04)
highlights: sehenswert (Tip-Berlin)
... Franziska Tenners Dokumentarfilm über eine freie Kameradschaft in Frankfurt/ Oder ist das facettenreich und sensibel gezeichnete Porträt einer Gruppe von rechtsextremen Jugendlichen, deren auswegslose Situation typisch für die Generation Ost ist.
Kritik von Martin Schwarz in "Zitty" 5/2004
Rechtsradikale Sehenswert
No exit
"Mein Sohn ist ein kleiner Nazi", sagt der Vater. "Na, so klein bin ich auch wieder nicht", antwortet Nico. Der ist zum Zeitpunkt der Dreharbeiten 22 Jahre alt und Oberhaupt der "Freien Kameradschaft Frankfurt/Oder". Akkurat gekämmter Scheitel,
höfliches Auftreten, Beruf: Versicherungsvertreter. Zur "Fortbildung" zeigt Nico am Kameradschaftsabend "Kolberg" von Veit Harlan oder ein Video über die Wikinger. Auf der Straße engagiert sich die Gruppe für härtere Strafen bei Kinderschändern.
Oder Nico geht mit seiner Gitarre ins Altersheim und singt dort etwas vor. Soziales Engagement: Das kannte man bislang von Neonazis kaum.
Ein Jahr hat Franziska Tenner Nico und seine Kumpels mit der Kamera begleitet. Entstanden sind interessante Porträts über ihn, den 19jährigen Skinhead Bibi und der zweifachen Mutter Conny. Wir erfahren viel über Lebensumstände, politische Einstellungen, Reibereien innerhalb der Gruppe. Und doch erliegt die Regisseurin nie der Versuchung, das Treiben der Kameradschaft zu verharmlosen. Alleine das selbstverständliche Benutzen von Wörtern wie "Rasse" jagt einem so manchen Schauer über den Rücken. Und gegen Ende erfahren wir, dass Bibi ohne Grund
einen jungen Mann übel zusammengeschlagen hat und zu 16 Monaten Knast verurteilt wird. Seine Meinung dazu: "Bereuen tu ich nichts." Dem ist nichts hinzuzufügen.
Filmkritik zu "No Exit" in der taz vom 19. Februar 2004
Eigentlich ganz traurig von Jan Distelmeyer
Franziska Tenner hat einen Dokumentarfilm über drei junge Neonazis in Frankfurt-/Oder gedreht. "No Exit" sucht die Nähe zu seinen Protagonisten, verliert aber den politischen Aspekt aus den Augen.
Ob er sich vielleicht wenigstens noch ein klein wenig beherrschen könnte, wär ja auch gleich vorbei. Vielleicht liegt es ja daran, dass die interne Vorführung von "Kolberg", Veit Harlans eigentlich nur als kommentierte Fassung zugelassenem NS-Endsieg-Propagandafilm von 1944, schlicht etwas lang geraten war. Oder an der ungemein miesen Qualität der Videokopie. Jedenfalls läßt in der Gruppe die Konzen-tration etwas nach.
So recht will die Diskussion um das "Outen zu Deutschland" nicht in Gang kommen. Selbst die Ermahnung des Skinheads auf dem Sofa "Bibi, nen bischen noch!" verpufft.
Insgesamt wirkt die politische Schulung der "Freien Kameradschaft Frankfurt/
Oder" ungefähr so engagiert, wie die Religionsstunde eines verordneten Bildungs-kurses der Bundesagentur für Arbeit ablaufen würde. Man weiß schon, was Kame-radschaftsführer Nico hören will, möchte wol auch gern an die völkisch-nationale Revolution glauben, aber na ja, wird damit wohl doch nichts demnächst.
Hier treffen wir alle drei Protagonisten, die Franziska Tenner in ihrer Dokumentation "No Exit" vorstellen wird. Ein Jahr lang hat sie den damals 22jährigen Nico, die 28jährige Conny und den 19jährigen Bibi durch Frankfurt/Oder begleitet. In zwei Grundschritten nähert sich "No Exit" ihnen: Mal ist die Kamera als stiller Beobachter bei Treffen, Schulungen oder Demonstrationen anwesend; mal wird direkt das Gespräch gesucht.
Mit "Nähe suchen" könnte man das zentrale Programm der Langzeitstudie über-schreiben. Um persönliche Begegnungen mit Rechtsradikalen soll es gehen, bei der sich alle drei, wie Franziska Tenner sagt, "tief in ihre Seele" schauen ließen. Nico ist als NPD-Mitglied die treibende politische Kraft der kleinen Grupppe, organisiert die Schulungen, wehrt sich gegen die Behauptung seines Vaters, Hitler sei in Wahrheit selbst ein Halbjude gewesen, und singt, wenn man ihn lässt, selbst verfasste Liebes-lieder vor:"Denn deutsche Mädchen fndest du in Deutschland kaum / drum ist sie für mich ein deutscher Mädeltraum."
Bibi findet Nico etwas "machtgeil" und gibt sich eher als eine Art unpolitischer Neonazi mit Durchdrehpotential. Am Ende muss er in den Knast, weil er einen anderen 19jährigen zusammengeschlagen hat. Da sitzt der neue Freund von Conny schon, die allein zwei Kinder großzieht und panische Angst hat vor der Rückkehr ihres Exmannes. Der war, wie wir erfahren, marokkanischer Asylbewerber, gewalt-tätig, unberechenbar, und bevor Conny von selbst erzählt, dass sie deshalb zu den Faschisten gestoßen ist ("ein deutscher Mann würde sowas nicht tun"), holt sich Franziska Tenner diese Erklärung ab:"Hat diese Erfahrung damit zu tun, dass du jetzt rechts bist?"
Abgesehen davon, dass hier ja kein bekenndes CSU-Mitglied interviewt wird, formu-iert sich an dieser Stelle ein grundsetzliches Problem des Films: Die bekannten An-worten sind immer schon da. Während "No Exit" die Unfähigkeit Einzelner dokumen-tiert, die eigene rechtsradikale Ausrichtung öffentlich zu formulieren, geht es anderer-seits um biografische Hintergründe und psychologische Dispositionen, die alles zu erklären scheinen. Nico wurde als Kind von der Mutter verlassen, der arbeitslose Vater hat sich neben seiner Wut auf "Göring, die fette Sau," und "die Neger" oder "die Kameltreiber" damit abgefunden, "dass Nico nen kleiner Nazi ist."
Conny scheut quasi als gebranntes Kind nun das ausländische Feuer, und Bibi wird im Gespräch am Ende gefragt, ob er manchmal an Selbstmord denke und es nicht sein könne , "dass du eigentlich ganz traurig bist".
Bis zum Ende erfahren wir wenig über die Haltungen und Ziele der "Freien Kamerad-schaft Frankfurt/Oder", als ob man es beruhigt bei den hingestotterten Erklärungen in der Einkaufszone belassen önne:"Sicherlich haben wir auch national denkende Men-schen in unsrern Reihen." Klarer hingegen entwirft sich das Bild einer tristen verarm-ten Stadt, in de junge Menschen wie automatisch "rechts" werden.
Nach der Vorführung des Films, berichtete Franziska Tenner, habe Nico sie gefragt, warum sie keine seiner politischen Statements verwendet habe. "Es hat mich nicht interessiert, war meine Antwort." Dieselbe Haltung spricht auch aus "No Exit". Und stellt damit die Frage, warum es hier eigentlich überhaupt um Rechtsradikale geht.
Filmtip aus "Ticket" im Tagesspiegel
EINS AUFS MAUL
Neonazis in Frankfurt an der Oder: "No Exit"
Diese Neonazis sind sogar zu blöd, ein Transparent zu malen. Die Mitglieder der "Freien Kameradschaft" bereiten eine Demo gegen Kinderschänder vor den Schreibfehler auf ihren Bettuch bemerken sie aber erst auf der Straße. Franziska Tenner, geboren 1972 Thüringen, hat die Nazis aus Frankfurt/Oder ein Jahr lang mit der Kamera verfolgt. Wir sehen sie rauchen, tapezieren, Dosenbier saufen, rumsitzen und über "nationale Fragen" diskutieren. Nico von der NPD versucht die Trupppe auf Parteikurs zu bringen, was aber nicht gelingt. Vor begeisterten Alten singt er seine Naziliedchen im Altersheim. Tenner, die selbst einige Jahre in Frankfurt gelebt hat, macht es uns nicht ganz leicht, diese Typen in ihren Londsdale-Shirts einfach zu hassen. Sie hat die Faschos als Menschen porträtiert: Nico (22, Versicherungsvertre-ter), Conny (28, allein erziehende Mutter) und Bibi (19, Schläger). Die Nähe zu den Protagonisten erschwert uns die Kategorisierung. Wie werden spießige Normalbür-ger zu Neonazis? Verharmlost wird nichts. Tenner interviewt sogar ein Opfer, das von einem aus der Gruppe übel verprügelt wurde. Der Täter kennt kein Mitgefühl. Auch ihn habe man schon zusammen geschlagen. "Man muß auch einstecken können." Wegsperren allein löst das Problem nicht, das macht der Film deutlich.
Andreas Becker
Aufschlussreiche Doku.
Berliner Morgenpost : Berlin Live vom 19.02.2004
Am rechten Rand
Studie über Neonazis: Franziska Tenners "No Exit"
Von Matthias Heine
Franziska Tenners "No Exit" ist weniger einer der üblichen alarmistischen Dokumentarfilme über den rechten Rand, sondern vielmehr eine Studie über arme Würstchen. Unter der Karnevalsmaske des Neonazitums verbergen sich höchst unterschiedliche Menschen mit sehr verschiedenen, oft ganz privaten Gründen für ihre Unzufriedenheit. Der neue Faschismus bietet ihnen vor allem eine Rhetorik, mit der sie ihre Wut, Angst und Sehnsucht artikulieren können, ohne allzu genau von ihrem persönlichen Schmerz und ihrem Versagen erzählen zu müssen.
Die Regisseurin hat sich drei sehr unterschiedliche Mitglieder einer "Freien Kame-radschaft" in Frankfurt/Oder genauer angesehen. Da ist Nico, der 21 Jahre alte NPD-Aktivist und rechte Liedermacher. Wöchentlich hält er Schulungen für die Kamerad-schaft ab: Einmal wird es fast komisch, als Nico exakt auszurechnen versucht, wie viele Buchstaben auf ein Transparent passen, das härtere Strafen für Kinderschän-der fordert. Ein anderes Mal sehen sie gemeinsam den Nazi-Durchhaltefilm "Kolberg" an, der ausgerechnet auf "arte" mitgeschnitten wurde.
Doch zunehmend schlägt Nico Misstrauen entgegen, weil er "machtgeil" sei und weil Leuten wie dem 19jährigen Bibi und der 28 Jahre alten Conny die Schulung schon zu sehr nach Schule riecht. Bibi ist der Typus des ewigen subproletarischen Schlägers. Zu viel Kraft, zu wenig Ruhe, aber fast sympatisch in seiner Dreistigkeit. Für Conny, die eine desaströse Ehe mit einem Ausländer hinter sich hat, bedeutet die Kamerad-schaft vor allem privaten Rückhalt. Nico wird einmal von seinem Vater daran erinnert, dass er wie fast alle Brandenburger slawischer Abstammung ist. Und auch die anderen Menschen, die von Franziska Tenner meist an biederen Couchtischen sitzend gezeigt werden, wirken allesamt so arisch wie eine arabische Großfamilie: Gepierct, tätowiert, Kaugummi kauend, kettenrauchend und in Hemden von Fred Perry oder Londsdale repräsentieren sie die traurige Schizophrenie ihrer Bewegung. Man möchte Typen wie Bibi nicht im Dunkelen begnen, aber der Film weckt trotzdem eher Mitleid mit jener schwer definierbaren Klasse von Ziel- und Haltlosen, die es wahrscheinlich zu allen Zeiten gegeben hat. Der moralische Zustand eines Gemeinwesens zeigt sich darin, ob es solche Menschen einfach als verloren abschreibt oder sich wenigstens noch um sie bemüht.